„Es ist eine besondere Genugtuung für mich, an der Burg, der sogenannten Burg, zu spielen. Ich bin ja verhinderter Schauspieler. Schauspielschüler. Ich habe seinerzeit, 1991, versucht, die Schauspielprüfung in Graz abzulegen. Bin gescheitert. [Applaus vom Publikum]. Frühlings Erwachen. Frank Wedekind. Die Masturbationsszene. Mir unbegreiflich. Ich hatte eigentlich viel geübt.“ – Dirk von Lowtzow, Sänger, Gitarrist und Poet.
Als die Hamburger Band Tocotronic irgendwann 1994, weder Gesang noch Instrumente wirklich beherrschend, in einem versifften Proberaum „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“ intonierten, dachten sie wohl kaum daran, dass sie knapp 20 Jahre später im ausverkauften Wiener Burgtheater auftreten würden. Aber das dachten Die Toten Hosen wohl auch nicht. Scheint jetzt hip zu sein, die Festungen der Hochkultur einzunehmen.
In den 90ern lieferten Tocotronic die Slogans zur Identitätsstiftung für eine ganze Generation von Jugendlichen von Verlierern und Verweigerern. Diese verwirrt verkopften Wortfetzen konnte man sich dann wunderbar aufs T-Shirt drucken oder in einem Liebesbrief an seine beste Freundin schreiben, die dann einem mit ihrem bezaubernden Engelsgesicht gestand, dass sie einen auch liebte … wie einen Bruder, weil man ja so ein guter Kerl wäre, um dann mit dem erstbesten Checker in der Kiste zu landen. Man verstand die Welt nicht mehr, hörte deshalb noch mehr Tocotronic und kassierte noch mehr Abfuhren. Und womit? Mit Recht! Ein Teufelskreis. Mit Komplimenten wie „du strahlst heller als der hellste Stern“ kommt man da nicht weiter. Irgendwann wurden diese Luschen und Loser mehr oder weniger erwachsen und landeten in den Redaktionen angesagter Popkultur-Zeitschriften, um dann in den letzten 10 Jahren gefühlt jedes Album von Tocotronic noch vor dem Erscheinen frenetisch abzufeiern und mit Höchstnoten zu bewerten, inklusive selbstverständlichem Stammplatz in der „Album des Jahres“-Liste und schon mal reserviertem Plätzchen für die Band im Himmelreich gleich neben Kurt Cobain.
Fakt ist aber auch, dass die Alben der Kritikerlieblinge Tocotronic einfach super sind und mit den Jahren immer besser werden, im Gegensatz zu anderen Bands, denen irgendwann nichts mehr einfällt und für die ein neues Album nur einen Vorwand darstellt, um eine Tour mit alten Hits im Gepäck zu absolvieren, für die man dann auch überteuerte Ticketpreise verlangen kann – die ganzen Nutten- und Kokspartys gehen ja schließlich ins Geld, die Betriebskosten für die Villa am anderen Kontinent sind nicht gerade billig und die Alimente zahlen sich auch nicht von selbst. Ich will ja keine Namen nennen. Und tue es deshalb auch nicht.
Aber zurück zum Konzert. Nun sind die sympathischen Tocos mit ihrem eben erschienenen verkappten Doppelalbum „Wie wir leben wollen“ auf Tour und schauten auch im Burgtheater vorbei. Dort spielten sie auf dem schmalen Grat zwischen Hirnwichserei und Herz, zelebrierten den Aufschrei und dosierten dezent rebellische Rockposen und Pathos, immer an der Grenze zur Selbstironie. Oder verständlich ausgedrückt: Es war sehr schön! Rechts vor der Bühne bildete sich eine kleine Gruppe von Leuten, die ungeniert Tanzen simulierte, während in ihrem Schatten andere Leute trotz jetzt verdeckter Sicht weiterhin brav, aber innerlich sicherlich angepisst, auf ihren Plätzen kleben blieben. Doch als mittlerweile ergraute Berufsjugendliche ist das Sitzen auch bequemer, man ist ja schon alt. Obwohl es gewaltig nervt, wenn diese Auf-Knopfdruck-gute-Laune-Clowns zappeln und Spaß haben, während man selber nichts fühlt. Aber mit dem Verlust der Ehrfurcht und Sinken der Hemmschwelle rafften sich immer mehr Leute auf, bis schließlich bei den Zugaben die Erwartungshaltung und der Gruppenzwang viel zu großen Druck ausübten, um jemanden noch auf den Sitzen zu halten. Standing Ovations. Aus.
Auf dem Heimweg richteten wohl nicht wenige ihren Blick verklärt auf die vielen vergangenen letzten Sommertage der eigenen Jugend voller Sehnsucht, unerwiderter Liebe und wiederholten Scheiterns, begleitet vom „Drüben auf dem Hügel“-Soundtrack. Nur mal eine Vermutung.
Ach ja, das Merchandising war jetzt nicht wirklich so der Hit und ein buntes T-Shirt mit dem Songtitel „Die Revolte ist in mir“ lässt mich statt an ein Aufbegehren eher an eine Lebensmittelvergiftung samt Durchfall denken. So wird das wirklich nichts mit der besten Freundin. Obwohl Tocotronic ja wissen: „Harmonie ist eine Strategie“, nur eben leider die falsche! Eine Tanzkarte müsste man haben und auf Dirndl stehen. Doch „was nicht ist, kann niemals sein“. Und somit wären wir wieder beim Thema Masturbation angelangt und der Kreis schließt sich. „Das ist keine Erzählung, das ist nur ein Protokoll, doch wir können davon lernen, wie wir leben wollen.“ Oder eben lieber nicht.
Abschließende Anmerkungen. Erstens: Ich sollte etwas gegen meine Alliteration-Abhängigkeit (verdammt, schon wieder!) unternehmen. Und zweitens: Obwohl ich ganz gefinkelt ein paar Schlüsselworte zum angesagtesten Thema der letzten Wochen hier im Text untergebracht habe (Himmelreich, Stern, Dirndl, Tanzkarte, Aufschrei), um auf ganz billige Weise Klicks zu generieren, wird das hier eh keine Sau bis zum Ende lesen, weil viel zu lang – und deshalb kann ich’s verraten, ha! – aber falls doch, hier die Setlist: setlist.fm/setlist/tocotronic/2013/burgtheater-vienna-austria-13dbd549.html